Das Klavier schaute mich traurig an. Meine eigenen vierzehn Quadratmeter rochen nach alter Bibliothek, wie alte Bücher, nachdem ich grundlos den Bücherschrank ausgeräumt hatte. Die Kirschholznachbildung, die ich in die rechte Ecke geschoben habe, da, wo die braune Farbe von der Wand blättert, damit es wohnlicher aussieht. Bücher lagen auf dem Boden, überall. Ich habe nach einer Antwort gesucht. Bücher gaben keine Antworten. Ich kniete auf dem Laminat und nahm blind ein Buch aus dem Chaos. Auf den letzten Seiten stand eine handgeschriebene Anekdote von mir.
"Vielleicht fühle ich mich deswegen wie Lyrian. Einfach, weil ich gerne so frei wäre wie er. Die Welt bietet mehr als Verpflichtungen für die, die genau hinsehen. Nur kann man Verpflichtungen nicht einfach vernachlässigen. Verstanden habe ich das. Nur vielleicht noch nicht akzeptiert."
Ich wollte nicht umblättern, um den Rest zu lesen, den ich auf die letzte Seite des Buches geschrieben habe. Regenwasser tropfte von meinen Strähnen. Ich wollte die Bücher neu einsortieren, als mir der Geruch von Bibliothek in die Nase strömte. Ich saß auf dem Laminat und schaute nach oben, und das Klavier schaute mich traurig an.
Bochum, irgendwann im Herbst. Es war der regnerischste Tag des Jahres. Subjektiv. Haarsträhnen klebten an meiner Stirn, wir standen unter dem Vordach eines Musikgeschäfts unter. Warteten das Ende des Regens ab, wohl wissend, dass er heute nicht nachlassen, geschweige denn aufhören würde.
„Spielst du eigentlich noch Klavier?“
„Kaum…“
„Warum? Ich meine, du-“
Der nächste Satz wurde vom Prasseln des Regens übertönt. Ich verstand ihn nicht, oder wollte ihn nicht verstehen. Eisiger Wind drang durch meine Jacke. Ich schaute überdeutlich auf die Uhr. Die U-Bahn in 4 Minuten, die hätte ich nehmen können.
„Ich muss nach Hause, ich bin total durchnässt. Ich will nicht krank werden.“
„Du weißt schon, dass dein Klavier dich traurig anguckt, wenn du es nicht spielst?“
Schnauben aus der Nase. „Schwachsinn.“
„Es ist dazu da gespielt zu werden. Von jemandem, der das kann.“
„Danke…“, sagte ich. Ich hörte Lob aus seiner Stimme. Lob von ihm war selten. „Ich muss jetzt los.“
„Vergiss nicht!“, rief er hinter mir her. „Es guckt dich traurig an!“ Ein lachender Blick zurück, ein Winken und durch den Regen zur U-Bahn-Station.
Es fiel mir zuhause auf. Als ich noch Klavier gespielt habe, wirkte die Wandfarbe nicht so blass. Weder so monoton noch so steril. Nicht ausgezehrt vom Leben. Aber ich wollte kein Klavier spielen, Punkt. Glaubte ich. Also wollte ich den Bücherschrank neu einordnen, und suchte nach einer Antwort. Und fand ein traurig blickendes Klavier. Ich setzte mich auf den Hocker. Regen aus meinen Haaren tropfte auf eine Taste. Ich spielte sie. Ich formte einen Akkord. G-Moll. Und auch wenn die Melancholie mit den Tönen durch meine vierzehn Quadratmeter kroch, konnte ich dazwischen versteckt das Klavier lachen hören. Und auch ich musste grinsen. Er hatte Recht behalten.